FOTOCULT MAGAZIN

View Original

"GENIALE DILLETANTEN" - SUBKULTUR DER 1980ER-JAHRE IN DEUTSCHLAND

Ausstellungsansicht 1, Foto: Michaela Hille

Im Deutschland der frühen 1980er Jahre erlangt eine künstlerische Alternativszene mit lautstarkem Protest und gezielter Provokation international Aufsehen und Anerkennung. Ihre Akteure setzen nicht auf virtuoses Können, sie streben statt-dessen nach Selbstorganisation im Sinne des Do-It-Yourself-Gedankens. Den Wunsch nach einem radikalen Bruch un-termauern sie mit der Gründung von eigenen Plattenlabels, Magazinen, Galerien und Clubs sowie dem unabhängigen Produzieren von Platten und Kassetten. Besonders in den Kunsthochschulen entwickelt sich eine Dynamik, die geprägt ist durch genreübergreifendes Experimentieren. Bands wie „Deutsch Amerikanische Freundschaft (D.A.F.)“, „Palais Schaumburg“ oder „Freiwillige Selbstkontrolle (F.S.K.)“ setzen sich mit deutschen Namen und Songtexten bewusst vom englischsprachigen Mainstream ab. 1981 findet im Berliner Tempodrom ein Festival statt, dessen absichtlich falsch ge-schriebener Titel zum Synonym für diese deutsche Subkultur der frühen 1980er Jahre wird: „Geniale Dilletanten“. Die Ausstellung des Goethe Instituts im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MKG) stellt die Protagonisten und Treffpunkte der künstlerischen Szenen in verschiedenen impulsgebenden Städten West- und Ostdeutschlands vor. Im Mittelpunkt stehen acht Musikbands sowie Künstler, Filmemacher und Designer aus den frühen 1980er Jahren. „Geniale Dilletanten“ gibt Einblick in die vielfältigen Verbindungen der Akteure untereinander und erzählt, wie sich die gleichzei-tig stattfindenden Entwicklungen in Kunst, Film, Mode und Design gegenseitig beeinflusst haben. Die Ausstellung zeigt insgesamt über 250 Exponate, darunter Gemälde, Fotografien, Kunst-, Design- und Modeobjekte, Schallplatten, Musik-kassetten, Soundstationen, Musik, Magazine und Fanzines, Plakate, Bandfilme und einen eigens produzierten Interview-film. Ein Kurzfilmprogramm, zusammengestellt von dem Künstler Florian Wüst, zeigt experimentellen Arbeiten von Yana Yo, Helge Leiberg, Brigitte Bühler & Dieter Hormel, Norbert Meissner, Christoph Doering und Ramona Welsh.

Die Tödliche Doris, Die Tödliche Doris in Form allegorischer Gestalten auf dem Festival Genialer Dilletanten, Westberlin, 1981, Foto: H. Blohm, Archiv: Die Tödliche Doris

Musik  
Im Zentrum der Ausstellung stehen acht progressive Bands, die ihre Wurzeln in den späten 1970er Jahren haben. Sie stehen beispielhaft für die Auflösung bestehender Konventionen und für die kreative Durchdringung verschiedener künstlerischer Disziplinen: Die „Einstürzenden Neubauten“ erforschen mit einem aus Schrott und Alltagsgegenständen zusammengestellten Instrumentarium die Grenzen zwischen Musik und Lärm. „Die Tödliche Doris“ experimentiert mit verschiedenen künstlerischen Formen wie Musik, Film, Fotografie, aber auch mit Objektkunst und Malerei. „Der Plan“ geht aus dem Betreiben einer Galerie hervor und tritt mit surrealen Kostümen und ironisch-sarkastischen Texten auf. Unter dem Motto „Heute Disco, morgen Umsturz, übermorgen Landpartie. Dies nennen wir Freiwillige Selbstkontrolle“ (1980) widmet sich „F.S.K.“ vor allem kulturellen Brüchen. Die Musik von „Palais Schaumburg“ gewinnt ihren besonde-ren Charakter durch die Kombination von Synthesizern, Sample-Geräten, Trompete und skurril-atonal vorgetragenem Gesang. Das Duo „D.A.F.“ verbindet provokative Texte mit harten Schlagzeug-Beats, gepaart mit Synthesizer-Effekten und einer Bühnenshow zwischen Ekstase und Krawall. Die anfänglich aus fünf Frauen bestehende Band „Mania D.“ steht für experimentelle Musik. Die von Radiomoderator John Peel als „Queens of Noise“ bezeichnete Gruppe schafft es nach nur wenigen Auftritten bereits nach New York. Die aus „Mania D.“ hervorgegangene Band „Malaria!“ steht neben ande-ren Gruppen 1987 auf der Bühne der documenta 7 in Kassel. Auch Ost-Berliner Künstler und Musiker engagieren sich im avantgardistischen Band-Projekt „Ornament und Verbrechen“, das durch Jazz, Industrial und elektronische Musik beein-flusst ist. Präsentiert werden die acht Bands mit Fotografien, Interviews, Hörstationen, Musikinstrumenten, künstleri-schen Objekten und Videoaufzeichnungen von Live-Auftritten. 

Aus der privaten Fotosammlung von Klaus Maeck

Bildende Kunst
Parallel zur Musik entstehen in Deutschland Anfang der 1980er Jahre auch in anderen künstlerischen Bereichen subkul-turelle Strömungen. In der Bildenden Kunst etabliert sich eine neue Generation von Malern, die u.a. „Junge Wilde“ ge-nannt werden. Ihre Werke werden auch als „Heftige Malerei“ oder neo-expressive Kunst bezeichnet. Sie wehren sich mit ihren emotionalen, subjektiven und spontan-gestischen Gemälden gegen den konventionellen Kunstbetrieb und vorherr-schenden Kunstbegriff. Die Nachfrage nach Bildern wird so stark, dass noch „feuchte“ Leinwände direkt aus den Ateliers gekauft werden. Die meist großformatigen, farbigen Leinwände enthalten figurative, surrealistische oder cartoonartige Stilmittel sowie Parolen und Zitate. Die Werke sind allerdings stilistisch und thematisch sehr unterschiedlich, selbst innerhalb der einzelnen Künstlergruppen. Mit ausgewählten Arbeiten von Martin Kippenberger, Albert Oehlen, Werner Büttner, Salomé und Ina Barfuß richtet die Ausstellung den Blick auf die Entwicklungen der Malerei der Zeit. Den unmit-telbaren Bezug der Maler zur Musikszene dokumentieren Helmut Middendorfs und Rainer Fettings Gemälde: Mit wilden Farben und Formen interpretieren sie das Geschehen auf der Bühne. Ein Höhepunkt der Ausstellung ist das 28 Meter messende Kolossalgemälde „Eine Zehntelsekunde vor der Warschauer Brücke“ von Bernd Zimmer. Es erinnert an die Kunstausstellungen des Berliner Clubs SO36, von Martin Kippenberger „Hochofen der Kunst“ genannt, in dem neben Auftritten von Punk- und Avantgarde-Bands auch künstlerische Performances, Lesungen, Filmvorführungen und Kunst-ausstellungen stattfinden. 

Einstürzende Neubauten, Kollaps, Foto für die Rückseite der LP, Vorplatz Berliner Olympiastadion, ZickZack ZZ65, 1981, Foto: Peter Gruchot

Design
Mit dem Neuen Deutschen Design verändert sich auch die Herangehensweise an die Formgestaltung radikal. Man ent-wirft nicht mehr nach den strengen Regeln des funktionalen und nüchternen Industriedesigns der 1950er und 1960er Jahre. Eine junge Generation von Designern, darunter auch Quereinsteiger wie Bühnenbildner, Aktionskünstler oder Musiker experimentiert mit ungewöhnlichen Materialien, Formen und Kombinationen. Alltagsgegenstände werden ihren üblichen Nutzungskontexten entzogen und einer neuen Funktion überstellt. In diesem Sinne transformiert der Designer Stiletto alias Frank Schreiner einen profanen Einkaufswagen zum provozierenden Sitzmöbel „Consumer‘s Rest“. Bei den „Einstürzenden Neubauten“ wird das gleiche Konsum-Vehikel zum Klangkörper im ebenfalls ausgestellten „Schlagwerk“. Es entsteht eine widerspenstige Ästhetik aus eklektizistischen Collagen und formalen Brüchen, bei der nicht selten Ironie und Provokation eine tragende Rolle spielen. Möbel und Objekte werden meist als Unikate oder in Kleinserie produziert. Gefragt ist individuelles Design statt Massenproduktion, das sogenannte „Autorendesign“ gewinnt zunehmend an Bedeu-tung. Verschiedene Designzentren und Gruppen wie Bellefast, Berlinetta, Cocktail, Ginbande, Kunstflug, Möbel Perdu, Pentagon, Stiletto oder Strand entwickeln sich parallel. 
Im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg findet 1982 unter dem Titel „Möbel Perdu– Schöneres Wohnen in Ham-burg“ eine der ersten musealen Ausstellungen statt. Die Objekte der für ein Museum provokanten Schau wurden je nach Standpunkt des Betrachters als "Neues", als "Anti"- oder "Un-Design" eingeordnet. Mit ausgewählten Exponaten und Interviews der Beteiligten erinnert „Geniale Dilletanten“ an diese wegweisende Ausstellung und ihre ungewöhnliche Entstehungsgeschichte. Weitere Höhepunkte sind die Fotoserie „Wahnzimmer“ von Tom Jacobi von 1986 und das ehe-malige Wohnzimmer des 1992 verstorbenen Designers, Kurators, Architekturhistorikers und Designtheoretikers Christi-an Borngräber. Es dokumentiert den „Sound der Zeit“ in Bezug auf die Möbelgestaltung: Neben Designklassikern von Stiletto oder Kunstflug sowie spielerischen Konstruktionen von Borngräber selbst finden sich in diesem 25 Quadratmeter großen „Period Room“ auch Objekte, die von den Künstlern der „Tödlichen Doris“ oder den „Einstürzenden Neubauten“ entworfen wurden. Teil des Zimmers ist auch ein Stuhl der Designergruppe Pentagon. Er war auf der documenta 8 in Kassel 1987 zu sehen, die erstmals auch Designobjekte zeigte. 

Freiwillige Selbstkontrolle (F.S.K.), Bandfoto für die LP Stürmer, Justin Hoffmann, Michaela Melián, Wilfried Petzi, Thomas Meinecke v.l.n.r., 1981, Foto: F.S.K.