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Albertina Modern: Schiele und die Folgen von 10. 9. 2021 bis 23. 1. 2022

Ausgangspunkt dieser Ausstellung in der ALBERTINA MODERN sind Egon Schieles bahnbrechende Körper- und Selbstbildnisse, die ihn als glücklosen, ausgestoßenen Künstler zeigen. Schiele löst sich von bildnerischen Traditionen und kommt zu einer theatralen Selbstinszenierung in Körpersprache, Gestik und Mimik. Selbstentblößung, Rollenspiel, Charakter- und Lebensanalyse stehen im Vordergrund seiner Selbstthematisierung als Künstler, während die Frage der Ähnlichkeit und Wiedererkennbarkeit des Dargestellten in den Hintergrund tritt.

Egon Schiele Selbstbildnis mit herabgezogenem Augenlid, 1910, Albertina, Wien

Durch größtmögliche Schonungslosigkeit und Abwendung vom Schönheitskult der Secession in Wien um 1900 bereitet Schiele den Boden für nachfolgende Künstlergenerationen

Seiner Neuinterpretation der Kunstgattung Selbstbildnis werden zwölf Künstlerinnen und Künstler des 20. Jahrhunderts gegenübergestellt. Georg Baselitz, Günter Brus, Adriana Czernin, Jim Dine, VALIE EXPORT, Elke Krystufek, Maria Lassnig, Karin Mack, Arnulf Rainer, Eva Schlegel, Cindy Sherman und Erwin Wurm erforschen in ihren Selbstporträts ebenfalls ihr tiefstes Inneres und blicken dabei hinter die Kulissen bloßer Selbstinszenierung.

Ausstellungsdaten

Ausstellungsdauer 10. September 2021 – 23.1. 2022
Virtuelle Eröffnung 10. September | 18.30 Uhr | via Facebook-Live & YouTube
Ausstellungsort ALBERTINA MODERN, Untergeschoß
Kuratorin Elisabeth Dutz
Werke 115
Kontakt Karlsplatz 5 | 1010 Wien T+43(01)534830 presse@albertina.at www.albertina.at/albertina-modern Öffnungszeiten Täglich 10 – 18 Uhr

DAS SELBTPORTRÄT

Das Selbstbildnis gilt seit Jahrhunderten als jene Kunstgattung, die Einblicke in das eigene Ich erlaubt. Es ist das gattungs- und bildmäßige Äquivalent für das Psychogramm: die Autobiografie der Künstlerin oder des Künstlers. Eine Aussage über das innerste Wesen, den Charakter und die jeweilige Verfasstheit des Kunstschaffenden wird in den wenigsten Selbstbildnissen getroffen, die vom späten 15.Jahrhundert bis zur Moderne entstanden, wären da nicht einige Ausnahmeerscheinungen wie allen voran Albrecht Dürer und Rembrandt. Dürers Selbstbildnis als Dreizehnjähriger – das erste abendländische Selbstporträt – lässt den Stolz eines selbstbewussten Künstlers erkennen, der sich vom Status des Handwerkers entfernt hat.

Über einhundert Selbstporträts – ein für das 17. Jahrhundert außergewöhnliches Sujet – schuf Rembrandt im Lauf seines Künstlerlebens. Er ist sein stets verfügbares Modell und erprobt die unterschiedlichsten Haltungen, Kostümierungen und Gemütszustände

auch zu Studienzwecken. Mit den Jahren thematisiert er zunehmend den eigenen Alterungsprozess.

Geht es ab der frühen Renaissance, als die Nachfrage nach individuellen Porträts der Reichen und Mächtigen stieg, vor allem um Ähnlichkeit und Wiedererkennbarkeit – von realistischen Darstellungen bis hin zu idealisierenden, heroisierenden Selbstdeutungen –, kommt es bei Egon Schiele zur Selbstthematisierung als Künstler. Die Frage der Ähnlichkeit tritt in den Hintergrund. Vielmehr stehen Selbstentblößung, Rollenspiel, Charakter- und Lebensanalyse sowie das Theatrale im Zentrum des Selbstbildnisses.

Dies zeigen in der aktuellen Schau - in unterschiedlichsten Ausprägungen - Werke von Egon Schiele, Georg Baselitz, Günter Brus, Adriana Czernin, Jim Dine, VALIE EXPORT, Elke Krystufek, Maria Lassnig, Karin Mack, Arnulf Rainer, Eva Schlegel, Cindy Sherman und Erwin Wurm.

Egon Schiele Selbstbildnis in oranger Jacke, 1913, Albertina, Wien

EGON SCHIELE
„Wenn ich mich ganz sehe, werde ich mich selbst sehen müssen...“

Egon Schiele ist noch keine zwanzig Jahre alt, als er in den ersten Monaten des Jahres 1910 eine tiefgreifende Wende vollzieht. Er lässt die bis dahin geltenden Porträtkonventionen hinter sich, bricht alle Tabus und widmet sich der zeichnerischen Erforschung seiner Identität auf eine so neue, bahnbrechende Art und Weise, dass sie für nachfolgende Künstlergenerationen wegweisend wird. Auch heute, mehr als einhundert Jahre später, hat dieser Wandel nichts von seiner epochalen Bedeutung verloren. Stilistisch bricht Schiele mit der Wiener Secessionskunst und entwickelt einen eigenständigen, radikalen Expressionismus.

Schieles Selbstthematisierungen – ein Bild des Elends in einem ausgemergelten Körper, rachitisch verkrümmt, mit verkrampften Extremitäten – und sein Rollenspiel als Kämpfer und Seher in selbstgewählter Armut sind nicht der Ausdruck persönlicher Kränkung oder einer sozialen Misere, sondern das Symbol der Entfremdung des Menschen von der Gesellschaft und der Religion. Sie sind eine Allegorie der Heimatlosigkeit des modernen Individuums. Sie verkörpern die dem Menschen innewohnende Verlassenheit.

Da ist nichts, das motorisch die Ikonografie dieser körperzentrierten Kunst bremsen könnte. Schiele ist der erste Künstler, der radikal den von den Akademien formell wie von der Gesellschaft informell festgeschriebenen Kanon dessen aufhebt, was überhaupt als Gegenstand der Kunst gelten darf. Niemand, der sich so wie Schiele in krassen Akten porträtieren ließe. Keiner, der die idealistische Ästhetik des Schönen so kompromisslos wie Schiele entriegelt hat. Genauso wie seine Selbstbildnisse sind auch seine Porträts von Freunden und Bekannten, Bilder von unschuldigen Kindern oder die in die Hunderte gehenden Frauen- und Mädchenakte inszeniert und nicht als Naturereignis beobachtet. Denn Schieles Kunst ist ihrem Wesen nach theatralisch. Egon Schiele gehorcht einer Ästhetik der Inszenierung.

Georg Baselitz Ohne Titel, 16 April, 2006, Albertina, Wien
Dauerleihgabe Sammlung Viehof c Georg Baselitz

GÜNTER BRUS
„Mein Körper ist die Absicht, mein Körper ist das Ereignis, mein Körper ist das Ergebnis.“

Günter Brus ist einer der bekanntesten und radikalsten Vertreter des Wiener Aktionismus. Unter Einsatz seines Körpers, besonders seiner Haut, protestiert er ab Mitte der 1960er-Jahre in Einzelaktionen gegen die Repression durch die österreichische Staatsmacht. Brus lässt das klassische Tafelbild hinter sich und macht das Gestische zum Angelpunkt seiner Malerei. Rasch werden die Bildträger zu klein. 1964 stellt der Künstler bereits in seiner ersten Aktion Ana seinen Körper in den Mittelpunkt. Es folgen im selben Jahr Selbstbemalung/Selbstverstümmelung I sowie 1965 Wiener Spaziergang und Selbstbemalung II. 1968 konfrontiert Brus gemeinsam mit Otto Muehl, Peter Weibel und Oswald Wiener in der Aktion Kunst und Revolution, die als „Uniferkelei“ in die österreichischen Kulturgeschichte eingeht, im Audimax der Wiener Universität das Publikum mit seiner „direkten Kunst“. Seine Aktionen gipfeln 1970 in Performances wie Zerreißprobe, in der Brus an die Grenzen der Selbstverstümmelung geht. Bis dahin hat der Künstler 43 Körperaktionen durchgeführt, die alle von Malerei und Zeichnung begleitet werden. Besonders durch seine Selbstbemalungen wird Brus zum Begründer der Body-Art: Im Unterschied zu Künstlern wie Otto Muehl und Rudolf Schwarzkogler, die vermehrt mit den Körpern ihrer Modelle agieren, arbeitet er bis auf wenige Ausnahmen ausschließlich mit seinem eigenen Körper. Indem Brus Papier und Leinwand hinter sich lässt, radikalisiert er in seinen Körperaktionen die Analyse des Ichs, die Egon Schiele bereits Jahrzehnte zuvor zeichnerisch erprobt hat.

Guenter Brus Aktion-Selbstbemalung ii, 1965, Albertina, Wien
Essl Collection /Guenter Brus

ADRIANA CZERNIN
„Was mich wirklich fasziniert, ist der Sekundenbruchteil einer Bewegung.“

Adriana Czernins großformatige Farbstiftzeichnungen der Jahre 2001 bis 2006 sind keine Selbstporträts im klassischen Sinn, auch wenn sie alle die Künstlerin darstellen. Sie vermitteln jedoch nichts von ihrer Person und deren Geschichte. Die Künstlerin verspürt nicht das Bedürfnis, sich selbst auszudrücken oder zu zeigen. Ihr geht es vielmehr darum zu erforschen, wie die weibliche Figur und ihr Umfeld im Bildraum zueinander stehen und was sich daraus ergibt. Auch die Beschäftigung mit traditionellen weiblichen Verhaltensmustern ist ein wesentlicher Aspekt ihrer Arbeit.

Die Figuren entstehen nach Diapositiven, für die Adriana Czernin posiert. So ist sie ihr eigenes Modell und kann die Posen und Verrenkungen vor dem Spiegel ausprobieren. Sie erklärt das folgendermaßen: „Was mich wirklich fasziniert, ist der Sekundenbruchteil einer Bewegung. Wenn eine Hand, ein Fuß oder ein Körper verrenkt ist oder gerade an ein stacheliges Ding oder eine Blume anstößt, ist oft nicht erkennbar, in welche Richtung diese Verrenkungen gehen. Ist es eine aggressive oder eine verteidigende Bewegung? Aber dass es einen Konflikt gibt, ist ziemlich klar, dass irgendwas mit der Schönheit und der Frau nicht so ganz stimmt. Sind es die Blumen, an denen die Frau zu ersticken droht, oder will sie sich von ihnen abgrenzen? Verschwindet sie in ihnen? Schmückt sie sich mit diesen Blumen? Ist das echte Schönheit oder eine oberflächliche, dekorative Schönheit? Eine illusorische Welt, also Kitsch?“

Der Gesichtsausdruck ist immer sehr ruhig und ausdruckslos und gibt keinen Aufschluss darüber, in welchem Gemütszustand sich die Dargestellte befindet. Was den Zeichnungen ihre besondere Spannung verleiht, ist das Verhältnis des dreidimensionalen Körpers zum flachen, scherenschnittartigen Hintergrund. Adriana Czernin entführt in ein florales Paradies, lässt aber offen, ob es sich um einen Ausschnitt des Gartens Eden oder um eine räumliche oder existenzielle Grenzsituation handelt.

Adriana Czernin Ohne Titel, 2004, Albertina, Wien

JIM DINE
„Ich male, wer ich bin, ich male, was ich bin.“

Jim Dine ist schon als Kind von Spiegeln und seinem Spiegelbild fasziniert. Früh entdeckt er seine Leidenschaft für das Zeichnen, und die Beschäftigung mit dem Selbstporträt wird zu einer Konstante seines Lebens und Schaffens. Der Spiegel ist dabei sein einziges Hilfsmittel. Nach dem Studium in Ohio geht er nach New York und malt gegenständliche Motive wie Bademäntel, Herzen oder Werkzeuge. Sie alle sind Motive der Selbstthematisierung, ein Vokabular seiner Gefühle. Seine Arbeit ist ein ständiges Nachdenken über sich selbst, und es geht ihm immer um das Innerste, das Subjektivste.

Ab den 1970er-Jahren befasst sich Dine intensiv mit seinem Selbstporträt, das für ihn bis heute als Motiv künstlerischer Selbstreflexion von großer Bedeutung ist. Es entstehen Selbstbildnisse in großer Zahl. Er zeigt stets dasselbe Ich, sein Gesicht lässt kaum ein Gefühl erkennen. Er spielt keine Rollen, um verschiedene Facetten seiner Persönlichkeit auszuloten, sondern konzentriert sich auf den innersten Kern seines Charakters, der trotz aller Stürme des Lebens unverändert bleibt. Sein Gesicht blickt uns frontal mit dem Ausdruck von höchster Konzentration und großem Ernst an. Der restliche Körper ist nicht zu sehen, auch die Gestik der Hände fehlt.

Die Selbstporträts Jim Dines zeigen eine in der Kunstgeschichte seltene Kohärenz invarianter Selbstwahrnehmung. Es ist immer ein und derselbe Blick in den Spiegel, nachdenklich, konzentriert, nicht ausweichend. Eine Aussage über die konkrete Lebenssituation des Künstlers zu einem bestimmten Zeitpunkt ist nicht möglich. Jedes Porträt wird vom Künstler neu erarbeitet, als sei es keines in einer Reihe von vielen. Genau das macht die ungeheure Kraft von Dines Selbstporträts aus.

Jim Dine on ardmore ave 2009,
Schenkung Künstler und Diana Michener c Bildrecht Wien 2021

VALIE EXPORT
„Auch der Mensch ist ein Medium der Kommunikation.“

VALIE EXPORT ist international eine der wichtigsten Künstlerinnen konzeptueller Medien-, Performance- und Filmkunst. Durch ihr multimedial orientiertes Œuvre prägt sie – als Waltraud Lehner in Linz geboren – im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre eine Ikonografie des Feminismus, die nach wie vor höchste Relevanz für nachkommende Künstlerinnen- und Künstlergenerationen hat. Zwischen 1965 und 1968 arbeitet sie als Cutterin und Filmkomparsin und kommt so in Kontakt mit dem Film. In ihrem künstlerischen Werk löst sie sich von den in diesem Bereich geltenden Konventionen und kommt über eine radikale Auseinandersetzung mit dem Medium zum Experimentalfilm. Immer wieder stellt sie gesellschaftlich festgelegte Verhaltensmuster, die Rolle der Frau im patriarchalisch-kapitalistischen System sowie die herrschenden Machtstrukturen in Frage.

EXPORTs erstes filmisches Selbstporträt mit dem Titel Selbstporträt mit Kopf stammt aus dieser Zeit. Ebenfalls in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre beginnt die Künstlerin ihren Körper als Bildträger und politisches Werkzeug einzusetzen. 1970 entstehen neben ihrer ikonischen Äußerung der feministischen Avantgarde Aktionshose: Genitalpanik einige Werke, in deren Mittelpunkt EXPORTS Tätowierung eines Strumpfbandes auf ihrem Oberschenkel steht. Body Sign Action stammt aus einer fünfteiligen Serie, in der sie dem Betrachter einen uneingeschränkten Blick auf ihren nackten Unterleib und das Strapstattoo auf dem linken Oberschenkel gewährt. Sie postuliert: „Der weibliche Körper streift ab, wirft weg den Stempel einer Welt, die bis jetzt nicht die Welt der Frau war, um zu einer menschlichen Welt zu kommen, in der sie ihre weibliche Existenz selbst bestimmen kann.“

Valie Export body sign b 1970, Albertina, Wien
c Valie Export Bildrecht Wien 2021

ELKE KRYSTUFEK „Ich bin euer Spiegel.“

Experimente mit den unterschiedlichsten Medien, die von Fotografien und Collagen über Filme, Installationen und Performances bis hin zu Zeichnungen und Gemälden reichen, machen Elke Krystufeks Œuvre komplex und facettenreich. Zwar studiert sie zwischen 1988 und 1992 in der Klasse Arnulf Rainers an der Akademie der bildenden Künste Wien Malerei, doch setzt sie sich mit allen diesen Medien eingehend auseinander. Dabei ist die Fotografie seit ihrer Jugend das wichtigste Ausdrucksmittel.

Besonders mit fotografischen Serien wie Pain(ting), die 1998 entsteht und insgesamt 16 Fotografien umfasst, lenkt Krystufek den Blick des Betrachters auf Tabuzonen und setzt sich mit Nacktheit und der Bloßstellung des menschlichen, vor allem des weiblichen, Körpers auseinander. Ihre Persönlichkeit, ihr Körper und ihre Sexualität scheinen die Hauptthemen dieser Werke. Tatsächlich lotet die Künstlerin damit die Grenzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit aus, die sie zugleich provokativ verschwimmen lässt. Pain(ting) besteht, wie viele ihrer Serien, aus einer Reihe spontan anmutender Selbstporträts. Krystufek steht während der Entstehung der meisten Fotografien – oft völlig nackt – vor dem Spiegel und fotografiert sich mit der Kamera, die sie häufig gut sichtbar und fast symbolhaft in der Hand hält, aktiv beziehungsweise mit Hilfe eines Selbstauslösers. In nahezu allen ihren Werken nimmt die Künstlerin über den Spiegel oder die Kamera direkten Blickkontakt mit dem Betrachter auf, was die teilweise beklemmende Distanzlosigkeit der Porträts noch verstärkt. Die meist englischen Titel, die Krystufek ihren Werken gibt, unterstützen in vielen Fällen den Bildinhalt – so auch der Titel Pain(ting), der ihre Auseinandersetzung mit dem Thema des Körperbewusstseins in der Gesellschaft sowie der Eigen- und Fremdwahrnehmung unterstreicht.

MARIA LASSNIG
„Ich male Empfindungen vom Körper.“

Maria Lassnig geht nach dem Studium an der Akademie der bildenden Künste Wien Anfang der 1950er-Jahre nach Paris, wo sie das Informel kennenlernt und wichtige Impulse erhält. Ihre Vision ist die Umsetzung ihrer Wahrnehmungen und Gefühle in eine abstrakte Formensprache. Sie entwickelt bald ihr eigenes Bildvokabular, mit dem sie vor allem Körperwahrnehmungen darstellt, ohne aber ganz auf die sichtbare Realität zu verzichten. Die Idee, die eigenen Körperempfindungen visuell zu erfassen, ist sowohl für Maria Lassnig selbst als auch für die Kunstgeschichte bahnbrechend und wird später mit dem Begriff „body awareness“ beschrieben. Bereits Ende der 1950er-Jahre entstehen nach der intensiven künstlerischen Auseinandersetzung mit Surrealismus, Informel und Tachismus Linien- und Farbknäuel, die Lassnig als Selbstporträts bezeichnet und die den „Körpergefühlssinn“ ausdrücken. „Ich nannte meine ‚body awareness paintings‘ zuerst ,introspektive Erlebnisse‘, später nannte ich sie überhaupt nicht mehr, als ich, meine Knödel und Quadrate als ,Selbstporträts‘ behauptend, nur Hohn erntete. Ich male body awareness seit dem Beginn meiner Malerei, sie ist als ideale Kunstbetätigung zu empfehlen, weil sie nie zu erschöpfen ist.“

Lassnig zeichnet und malt nicht den Gegenstand Körper, sondern Empfindungen vom Körper, und setzt sich dabei mit den großen Themen des Lebens auseinander: Liebe, Tod, Gewalt, Natur, Kunst und Technologie.

Maria Lassnig Camera Cannibale 1998, Albertina, Wien
Essl Collection c Maria Lassnig Stiftung Bildrecht, Wien 2021

KARIN MACK Räume des Selbst

Karin Mack gilt als bedeutende Fotokünstlerin der feministischen Avantgarde der 1970er-Jahre und war zwischen 1977 und 1982 aktives Mitglied der IntAkt, der Internationalen Aktionsgemeinschaft bildender Künstlerinnen. Ab den späten 1960er- Jahren arbeitet Mack vorwiegend als Architekturfotografin und rückt im darauffolgenden Jahrzehnt vermehrt sich selbst in den Mittelpunkt ihrer fotografischen Arbeiten, indem sie ihre Lebenssituation, die traditionelle Rolle der Frau in der Gesellschaft und deren Handlungsweisen kritisch zu hinterfragen beginnt. Die frühen surreal anmutenden Fotofolgen der Künstlerin sind wie Serien von Comiczeichnungen zu lesen und als Knotenpunkt feministischer Recherche und Konzeptkunst zu sehen. 1975 entsteht die vierteilige Serie Bügeltraum, die die Künstlerin gefangen im Alltag als Hausfrau und Mutter zeigt, wie er seit Generationen vorgezeichnet ist. Noch ironischer wendet sich Mack zwei Jahre später gegen die vorgegaukelte Idylle zeitgenössischer Werbung. Die Fotofolge Zerstörung einer Illusion, für die Mack mit Selbstauslöser arbeitet, zeigt ein Sujet, das aus einer dieser Reklamen stammen könnte, die das traditionelle Bild der Frau in der Werbung propagieren. Schritt für Schritt wird es vernichtet, und die Zerstörung der Illusion wird zum Akt der Befreiung.

Karin Mack Buegeltraum Nr 4 1975, Albertina, Wien
Bildrecht Wien 2021

ARNULF RAINER
„Was die Übermalungen betrifft, so weiß ich heute endgültig, dass es immer ich bin, der darunter ,schläft‘.“

Arnulf Rainer zählt seit vielen Jahren zu den einflussreichsten lebenden Künstlern der Gegenwart. Seit seinen Anfängen in den 1950er-Jahren sucht er stets kompromisslos neue, meist radikale Wege, und schon bald beginnt er, mit dem eigenen Körper zu experimentieren. Von besonderer Bedeutung ist für ihn die Begegnung mit der zustandsgebundenen Kunst bzw. Art brut, die früher als „Kunst der Geisteskranken“ bezeichnet wurde: „Was die Übermalungen betrifft, so weiß ich heute endgültig, dass es immer ich bin, der darunter ,schläft‘. Meine Zumalungen sind ja keine Abstraktionen, sondern meine Verhüllung, also auch eine psychophysische Reproduktion. Ich bin dann aufgewacht und unter der Decke hervorgekrochen. Geholfen hat mir dabei der ,Geist der Geisteskranken‘. Vielleicht habe ich von ihnen gelernt, meine eigene Psychopathik zu validieren; das muss jeder. Sicher ist jedoch, dass ich über sie besser begriff, das Mimische und Gebärdenhafte zu entwickeln.“

Zunächst zeigt Arnulf Rainer der Öffentlichkeit sein mit kräftigen schwarzen Linien bemaltes Gesicht. Es folgen die übermalten Automatenfotos der Jahre 1968 und 1969, die als Erweiterung der Leinwand gedacht sind. Er nennt sie Face Farces. Mit diesen Arbeiten, die bald nicht mehr auf Grundlage von Automatenfotos entstehen, will Rainer einen bestimmten Ausdruck und eine bestimmte innere Spannung nach außen tragen. Weitere Selbstbildnisse in Form von Body Poses entstehen zeitgleich mit den Übermalungen. Diese basieren auf Fotovorlagen, die Rainer durch Zerkratzen, Überstricheln, Zuschütten und Fingermalerei bearbeitet. Er reagiert auf existente Bilder, wobei die „Vorbilder“ meist noch deutlich erkennbar sind. Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen Malerei und Fotografie, bei der häufig die Bildoberfläche verletzt wird. Der Künstler erklärt dies so: Bei den Übermalungen löscht er etwas, mit dem er sich zuvor identifiziert hat, bei den Face Farces und Body Poses verändert und erweitert er. Das vollzieht sich in einem teils jahrelangen Prozess des Nachdenkens.

Arnulf Rainer Selbstporträt, Albertina, Wien
Familiensammlung Haselsteiner c Arnulf Rainer

EVA SCHLEGEL
„Bin ich wirklich da?“

Eva Schlegel arbeitet in verschiedenen Medien: Fotografie, Video, Malerei, Zeichnung, Installation und Intervention, um nur einige zu nennen. Die großen Themen sind Raum – auch die Person und sie selbst im Raum – und Reflexion. Thematisch bewegen sie Fragen nach den Grenzen der Wahrnehmung, die Überprüfung von Sehgewohnheiten und die künstlerische Erforschung wissenschaftlicher Phänomene. Die Kamera ist dabei stets ihr Mittel zur künstlerischen Formulierung. Eva Schlegel schafft, wie sie sagt, Porträts: Porträts von Räumen, von Frauen und immer wieder Selbstporträts in unterschiedlichen Techniken.

Das 2013 entstandene Selbstporträt, eine großformatige Zeichnung, zeigt die Künstlerin, wie sie gewissermaßen aus dem Raum wächst. Es ist ein Meisterwerk räumlicher Verschränkung. Vor einigen Jahren entsteht Schlegels Zyklus, bei dem sie mit Spiegelinstallationen an der Decke und am Boden arbeitet. Die Künstlerin erläutert, dass es ihr dabei oft darum geht, den Betrachter nicht zu spiegeln, also den Kreislauf zu durchbrechen, in dem sich jemand im Spiegel betrachtet und sich so seiner selbst, seiner Existenz, versichert. Blickt man nach oben in einen Spiegel an der Decke und sieht sich selbst, ist der Raum plötzlich ein ganz anderer, ist man ihm auf einmal enthoben. Diese Situation bildet sie in ihrem Selbstporträt ab. Sie steht am Boden, blickt hinauf in den Spiegel und macht ein Foto. Die Zeichnung ist die künstlerische Umsetzung dieser Fotografie ihres Spiegelbildes: Die Künstlerin schaut uns von oben herab an. Nur die Rinnspuren und Tropfen der Farbe erinnern an die Schwerkraft und bringen Bewegung in die Zeichnung, eine Art Bewegungsunschärfe, wie sie Schlegels Fotografien so oft auszeichnet. Schlegel setzt die Unschärfe bewusst ein, sie macht die Arbeiten offener, ermöglicht eine freiere Interpretation. Es ist wie ein Kommen und Gehen, eine Erinnerung, die nicht mehr ganz klar ist, verschwimmt, eine Bewegung zwischen Erscheinen und Verschwinden.

Eva Schlegel Ohne Titel Selbstportraet 2013, Albertina, Wien
Galerienfoerderung 2016 c Bildrecht Wien 2021

CINDY SHERMAN
„Ich kann in meiner Kunst verschwinden.“

Cindy Shermans künstlerische Karriere ist unwiderruflich mit ihren ab 1977 entstandenen Untitled Film Stills verbunden. Diesen Nukleus ihres Schaffens zeichnen bereits jene Charakteristika aus, die Sherman in ihren folgenden Arbeiten weiter variieren sollte: Fotografie und Performance, Appropriation und Maskerade, Medienkritik und Feminismus dienen ihr in der insgesamt siebzig Fotos umfassenden Serie zur Darstellung eines Inventars weiblicher Typen, die sie der Populärkultur entnimmt. Shermans Bezug zu Filmstills – Werbebildern für Zeitschriften und Kinofoyers – ist programmatisch für die unter dem Label „Picture Generation“ subsumierten Künstlerinnen und Künstler, die sich in den 1970er- und 1980er-Jahren mit Massenmedien der wachsenden Konsumkultur auseinandersetzen. In den Untitled Film Stills agiert Sherman selbst als Modell, wobei sie stark analytisch auf die medialen Darstellungsweisen von Frauen eingeht. In exakt durchgeplanten Mises en Scène verkörpert sie stereotype Frauenfiguren, die sie an B-Movies oder Autorenfilme Alfred Hitchcocks und Michelangelo Antonionis anlehnt, ohne diese jedoch direkt zu zitieren. Ihre Stills setzen vielmehr die im allgemeinen Bewusstsein verankerte Bildkultur voraus, wobei der Reiz der Fotos im letztlich scheiternden Versuch der Betrachter besteht, die vielfältigen Referenzen zu dekodieren. Sherman variiert dabei stets das Konzept der Verkleidung: Sie fertigt Modeaufnahmen an, deren groteske Gestaltung mit dem verführerischen Aspekt der Werbung bricht. In der Rolle von Clowns wiederum irritiert sie durch die bizarre Übertreibung des menschlichen Gefühlsspektrums. Ihr Zitieren und Wiederholen von Bildern der Massen- und Hochkultur stellen die künstlerische Urheberschaft und den klassischen Geniebegriff infrage. Indem Cindy Sherman ihre Inszenierung klar als solche sichtbar macht, seziert sie die visuelle Konstruktion von Weiblichkeit für einen vornehmlich männlichen Blick.

Cindy Sherman untitled 1984-90

ERWIN WURM
„Ich gehe an Gesichter heran wie an Landschaften.“

Obwohl man den Namen Erwin Wurm zunächst mit seinen skulpturalen Werken – den „fetten“ Objekten sowie den „One Minute Sculptures“– assoziiert, bildet die Zeichnung eine ebenso tragende Säule seines Schaffens. Zeichnungen sind nicht nur die Grundlage für Wurms Auseinandersetzung mit dem Skulpturbegriff, sei es in Form von Skizzen für seine Objekte oder „Anleitungen“ zu seinen „One Minute Sculptures“, sondern auch ein eigenständiger Werkblock. Wurm setzt sich zeichnerisch mit verschiedensten Themen auseinander und wählt meist Menschen, die ihn interessieren und inspirieren, als zentrales Motiv, oftmals aber auch sich selbst in unterschiedlichen Rollen.

Im Unterschied zum Entstehungsprozess seiner skulpturalen Werke, die er nach deren Konzeption in Werkstätten fertigen lässt, ist Wurm bei der Entwicklung seiner Zeichnungen völlig allein. Der Künstler beschreibt seine zeichnerische Auseinandersetzung mit sich und der Welt als die direkteste und minimalistischste Form seiner künstlerischen Arbeit, da nichts und niemand zwischen ihm und dem Zeichenblatt steht. Er zeichnet fast täglich, daheim wie unterwegs, weshalb die meisten Werke auf kleinformatigem Papier in den unterschiedlichsten Techniken entstehen: mit Bleistift, Buntstift, Kugelschreiber, Feder und Aquarellfarben, worin die Mannigfaltigkeit seines künstlerischen Wollens zum Ausdruck kommt. In vielen seiner Porträts und Selbstbildnisse ist der Kopf wesentlich größer als der Körper dargestellt, nimmt also eine dominante Rolle ein und verweist darauf, dass Wurm die Realität hinterfragt und ihr seine Wahrnehmung gegenüberstellt. Die meisten der hier gezeigten Zeichnungen sind zwischen 2016 und 2018 entstanden und finden sich in dem Künstlerbuch Erwin Wurm. Peace und Plenty aus 2018 zusammengefasst, das den Namen jenes Luxushotels auf den Bahamas trägt, in dem viele der zügig hingeworfenen tagebuchähnlichen Blätter entstehen. Dort erleidet Wurm aber auch einen Asthmaanfall und widmet diesem Vorfall eine Gruppe seiner Zeichnungen.

Erwin Wurm blue round 2016-17, Albertina, Wien
Schenkung Erwin Wurm c Bildrecht Wien 2021