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LEOPOLD MUSEUM PRÄSENTIERT ERSTE AUSSTELLUNG ZUM SCHAFFEN DER DEUTSCHEN EXPRESSIONISTIN GABRIELE MÜNTER IN ÖSTERREICH

Die umfassende Retrospektive zeigt mehr als 130 Werke der Künstlerin, darunter Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafik und würdigt ihr viel zu wenig bekanntes fotografisches Schaffen.

© Leopold Museum-Privatstiftung/APA-Fotoservice/Tanzer

Als erste Institution in Österreich widmet das Leopold Museum dem Werk von Gabriele Münter (1877–1962), einer der Hauptvertreter*innen der europäischen Avantgarde, eine großangelegte Schau. Anhand von hochkarätigen Kunstwerken aus internationalen Museen und Privatsammlungen gibt die Ausstellung Einblick in das facettenreiche Œuvre der Malerin. Die Künstlerin praktizierte unterschiedlichste Techniken, vollzog couragierte Stilwechsel und suchte Zeit ihres Lebens nach dem rein malerischen Ausdruck. Enthusiastische Momente, evoziert durch künstlerische Errungenschaften, standen persönliche Enttäuschungen und Phasen der Resignation gegenüber.

NEUBEWERTUNG DES SCHAFFENS

Die Präsentation im Leopold Museum rückt die Eigenständigkeit der Leistung Münters in den Mittelpunkt und zeigt, dass die Ausnahmekünstlerin weit mehr war als eine Wegbegleiterin im Schatten des russischen Avantgardisten Wassily Kandinsky (1866–1944). Zu Lebzeiten und noch lange danach versuchte man sie auf diese Rolle zu reduzieren. Erst in den letzten Jahrzehnten führten richtungsweisende Publikationen und Ausstellungen zu einer Neubewertung ihres Schaffens.

„Heute genießt Gabriele Münter den Status einer Säulenheiligen der deutschen Avantgarde und der internationalen Moderne. Manche ihrer Gemälde sind mit signifikanten, auf Form und Farbe, Schlichtheit und Harmonie fokussierten Kompositionsschemata regelrechte Ikonen des deutschen Expressionismus. Dass das Leopold Museum nun als erste Institution in Österreich eine umfassende Münter-Retrospektive ausrichtet, ist ein seit einer Dekade gehegter Wunsch und erfüllt uns mit großer Freude.“ Hans-Peter Wipplinger, Direktor des Leopold Museum

FOTOGRAFIE, BEGEGNUNG MIT KANDINSKY UND REISEN

Die Ausstellung startet mit einem Blick auf das fotografische Schaffen der Künstlerin. Während eines zweijährigen USA-Aufenthaltes ab 1898, der sie zu ihren amerikanischen Verwandten führte, hielt sie mit der Kamera auf unkonventionelle Weise Eindrücke ihrer Reise fest. Nach Deutschland zurückgekehrt, studierte Münter ab 1901 in München an Privatschulen, da Frauen zu jener Zeit der Zugang zu den staatlichen Akademien noch verwehrt war. In der Kunstschule der Gruppierung Phalanx lernte sie Wassily Kandinsky kennen, den Präsidenten der Vereinigung. Ihre ersten Ölgemälde entstanden im Zuge der Sommerkurse Kandinskys, der die Schüler*innen in Freilichtmalerei unterrichtete. Im oberbayerischen Kochel am See kam es zu einer Annäherung zwischen der Schülerin und ihrem verheirateten Lehrer. Von 1904 bis 1908 unternahmen sie gemeinsame Reisen, die sie unter anderem nach Holland, Tunesien und Frankreich führten.

DER WEG ZUR REDUKTION

Als Ergebnis ihrer intensiven Beschäftigung mit der Druckgrafik entstand u.a. die in der Ausstellung gezeigte Farblinolschnitt-Porträtserie Kandinsky (1906). Eine Reduktion auf Konturen und Farbfelder fand sich bald auch in ihren Ölgemälden wieder.

„Selbst ein ungeübtes Auge erkennt an Gabriele Münters Gemälden rasch die Zeichnerin, war doch die ,geheime Meisterin der reinen Linie‘ in Wirklichkeit eine ganz und gar offenkundige. Jener Abstraktion, die materiell bekanntlich nicht existiert, in der Welt der visuellen Dinge aber omnipräsent ist, nämlich der Linie, kommt in vielen Werken von Münter eine konstituierende Rolle zu; diejenige eines Gerüstes.“ Ivan Ristić, Kurator der Ausstellung

DIE WENDE IN MURNAU

Im Sommer 1908 entdeckten Münter und Kandinsky den pittoresken oberbayerischen Ort Murnau am Staffelsee. Hier gelang der Künstlerin der entscheidende Durchbruch zu Klarheit und Reduktion. Münter erwarb ein Haus am Ortsrand, in dem die Protagonisten der Avantgarde, unter anderen Marianne von Werefkin, Alexej von Jawlensky, Franz Marc, August Macke, Paul Klee und Arnold Schönberg zu Gast waren. Das vor dem Murnauer Haus entstandene Bildnis Marianne von Werefkin, eine Ikone der Moderne; und das Bildnis einer jungen Dame mit großem Hut (Polin), beide aus dem Jahr 1909, werden in der Ausstellung zentral präsentiert.

NETZWERKERIN DER MODERNE – N.K.V.M UND BLAUER REITER

Bei der Gründung der Neuen Künstlervereinigung München (N.K.V.M.) im Jahr 1909 war Münter federführend beteiligt. Sie agierte als Promotorin der Gruppe und gestaltete auch das Projekt des Blauen Reiters maßgeblich mit. Durch ihre fotografische Dokumentation wurde sie zur wichtigsten Chronistin der Münchener Avantgarde. Der Berliner Galerist Herwarth Walden, eine zentrale Gestalt der deutschen Kunstszene, veranstaltete Anfang 1913 in seiner Galerie Der Sturm eine umfangreiche Einzelausstellung von Gabriele Münter.

HINTERGLASMALEREI, ABSTRAKTION UND KINDERWELTEN

Münter faszinierte die Hinterglasmalerei ebenso wie Jawlensky, der seit 1908 oberbayrische Hinterglasbilder sammelte. Sein Stillleben mit Heiligenbild, in dem sich ein Stück volkstümlicher Hinterglasmalerei als Bild im Bild findet, wird in der Ausstellung präsentiert. Inspirationen der Hinterglastechnik und auch die koloristischen Innovationen der Fauvisten führten zu ihrem unverkennbaren Stil. 1912 fokussierte sie auf die Möglichkeiten der Abstraktion, paraphrasierte ihre Interieurs und Stillleben. In dem von Kandinsky und Franz Marc 1912 herausgegebenen Almanach Der Blaue Reiter wurden neben „naiver“ Kunst auch Kinderzeichnungen abgebildet, darunter vier von Münters Nichte. Beispiele für diese durch Kinderhand geschaffenen Bilder finden sich in dem in der Schau präsentierten Gemälde Im Zimmer (1913). In der Kinderkunst suchte Münter ohne Sentimentalität gestalterische Formeln.

SKANDINAVIEN

1915 verließ Gabriele Münter Deutschland in Richtung Schweden. Im Dezember kam Kandinsky aus Russland nach Stockholm, wo Münter für ihn eine Einzelausstellung organisiert hatte. Es folgte eine Schau ihrer eigenen Bilder, nach deren Ende Kandinsky abreiste, die Beziehung endgültig beendete und Münter verbittert zurückließ. In Kopenhagen, wohin Münter Ende 1917 zog, fand 1918 ihre bis dato größte Ausstellung statt.

DURCH EINE LEBENS- UND SCHAFFENSKRISE ZU SACHLICHKEIT UND NEUER PRODUKTIVITÄT

1920 kehrte Münter nach Deutschland zurück. Ausstellungen in der Neuen Münchener Secession und bei Thannhauser folgten. Diese Zeit war durch eine Lebens- und Schaffenskrise und durch den bis 1926 andauernden Rechtsstreit mit Kandinsky gekennzeichnet, welcher die Rückgabe seiner in München zurückgelassenen Werke forderte. 1927 begegnete sie erstmals dem Kunsthistoriker Johannes Eichner, ihrem späteren Lebensgefährten. In Paris und Südfrankreich folgte eine produktive Zeit. In der zweiten Hälfte der 1920-er Jahre sind in ihren Werken Ansätze der Neuen Sachlichkeit zu erkennen. In dieser Zeit entstanden die in der Schau präsentierten Gemälde Zuhörerinnen (1925-1930) und Dame im Sessel, schreibend (1929). Durch die Industrialisierung bedingte landschaftliche Veränderungen fanden Niederschlag in Münters Malerei und auch im urbanen Kontext nahm sie sich der Arbeitswelten an, so etwa im Gemälde Baukran (1930). Ab 1931 ließ sich Münter erneut in Murnau nieder. 1936 zog auch Johannes Eichner von Berlin in das Sommerhaus, welches zum Dauerwohnsitz wurde. Der Blumengarten inspirierte die nuancierte Farbigkeit von Münters Stillleben. Es folgte eine Rückkehr zu ihren künstlerischen Wurzeln und zu hoher Produktivität.

ZWISCHEN ANPASSUNG UND WIDERSTAND

Im Juli 1937 eröffnete in München die erste Station der nationalsozialistischen Wanderausstellung Entartete Kunst. Hunderte aus öffentlichen Sammlungen beschlagnahmte Werke der deutschen und internationalen Avantgarde denunzierte man als dekadent und „artfremd“. Arbeiten von Gabriele Münter, die bis dato in keinem einzigen Museum vertreten war, fehlten in der berüchtigten Propagandaschau. Über Münter wurde kein Berufsverbot verhängt. Anfeindungen seitens der Kulturobrigkeit des Regimes blieben der Malerin weitgehend erspart, doch auch Erfolge blieben aus. Münters und Eichners Haus in Murnau wurde indes zu einem sicheren Ort der Moderne: Das Paar versteckte in Zeiten der nationalsozialistischen Barbarei zahlreiche frühe Werke Kandinskys und Archivalien des Blauen Reiters. 1957 schenkte Münter dem Lenbachhaus über 100 Werke, darunter eigene sowie Arbeiten von Kandinsky und anderen Protagonist*innen des Blauen Reiters. Gabriele Münter wurde als Stifterin und Wegbegleiterin gefeiert, doch die Neubewertung ihres Œuvres, die sie an die Spitze der Weltkunst führte, erlebte die Künstlerin nicht mehr.

Kurator: Ivan Ristić

Fachkonsulentin: Annegret Hoberg

FOTOCULT Blog by Glaphyra Gusenbauer