Helnwein: Realität und Fiktion
Zum 75. Geburtstag von Gottfried Helnwein präsentiert die ALBERTINA eine umfassende Ausstellung seiner Arbeiten der letzten drei Jahrzehnte. Helnwein, der 1948 in Wien geborene Künstler, erhebt in jedem seiner Bilder Anklage gegen Grausamkeit und Unbarmherzigkeit sowie den Schrecken des Faschismus.
Sein Schaffen zeichnet sich durch kompromisslosen Realismus aus, der gesellschaftliche Missstände anprangert und das unschuldige, wehrlose Kind in den Mittelpunkt rückt. Dieses Kind verkörpert psychologische und gesellschaftliche Ängste sowie den Schmerz, der ihm durch Missbrauch, Macht und Gewalt zugefügt wird.
Helnweins hyperrealistische Bilder, die stets auf fotografischen Vorlagen basieren, sind „bigger than life“ und beeindrucken durch ihre technische Perfektion. Obwohl die Werke als real wahrgenommen werden, entsprechen die überdimensionale Größe der Werke und die Verwendung einer monochromen Farbgebung nicht der Realität; Helnwein entrückt den ursprünglichen Eindruck von Realität, den sie vermitteln sollen, und erschafft eine symbolhafte Darstellung. Der Künstler vereint in seinem Bildkosmos Motive aus diametral entgegengesetzten Welten: Manga-Figuren und Kriegsfotografie, Donald Duck und Adolf Hitler, die Jungfrau Maria und Nazi-Schergen.
Diese Kombinationen erzeugen eine Mischung aus Groteske und Horror und lösen dabei Beunruhigung sowie Beklemmung aus. Helnwein zwingt uns zur Einsicht in die ursächlichen Abhängigkeiten der Motive und führt uns schonungslos Sachverhalte vor Augen, wie die Misshandlung und Ausbeutung von Kindern, Täter- und Opferschaft, den Zynismus der modernen Kriegsführung sowie die Banalität des Bösen und Niederträchtigen in all seinen Erscheinungsformen.
In der Werkserie »The Disasters of War«, an der Gottfried Helnwein seit 2007 arbeitet, integriert er mangaähnliche Mädchenfiguren in Katastrophenszenarien. Durch diese bizarre Verschmelzung von Manga-Elementen mit realen Katastrophen zeigt der Künstler die Absurdität dieser Ereignisse auf. Obwohl der Manga-Stil omnipräsent in der heutigen Populärkultur ist, empfand Helnwein diesen anfänglich als fremd und verstörend. Für ihn symbolisiert dieser Stil ein künstliches Kindsein, das nicht menschlich, sondern kalt und synthetisch wirkt.
Gelegentlich tauchen in Helnweins Werken auch Mädchen in Militäruniformen oder mit Waffen in der Hand auf, teils mit Bandagen oder blutigen Wunden. Diese Szenen erinnern an Kindersoldaten oder jugendliche Amokläufer in den USA. Der Künstler thematisiert damit die Anfälligkeit von Kindern für alle Arten von Manipulation und deren ideologischen Missbrauch. Die Comic- Charaktere in seinen Bildern scheinen wie perfide imaginierte „Einflüsterer“ und betonen zugleich den Irrwitz dieser zum Bild gewordenen Wahnvorstellungen. Micky Maus, monströs und mit gebleckten Zähnen, offenbart eine latente dunkle Seite und demaskiert das Böse, das sich hinter der sonst so freundlichen Fassade versteckt. Auch der unheimliche gelbe Vogelmann mit seinem langen spitzen Schnabel, der sich dem Kinderbett nähert, ist dem Albtraum entsprungen.
Helnwein knüpft an die Lebenswelt von Kindern an, in der Erdachtes und Fantasie die gleiche Daseinsberechtigung haben wie real Existierendes: Das Monster unter dem Bett wird zu einer tatsächlichen Gefahr, der Teddybär verspürt wirkliche Gefühle und die Tür des Kleiderschranks verwandelt sich in den Eingang zu einem fremden Reich. Doch hier im Bild entspringt nichts der blühenden Fantasie eines Kindes, im Gegenteil. Helnwein lässt die Grenze zwischen Realität und Albtraum verschwimmen, um zu zeigen: Monster gibt es wirklich.
Helnwein hat seine Themen in den unterschiedlichsten Techniken und Medien umgesetzt: von frühen Aquarellen und Zeichnungen über seine Aktionen und deren fotografische Dokumentation bis zu Malerei, Bühnenbildern für Theaterinszenierungen und Installationen im öffentlichen Raum. Die Kunstgattungen gehen oft ineinander über oder Elemente, die ursprünglich in einem anderen Kontext entstanden sind, finden an weiterer Stelle Anwendung. Der Künstler versteht sich daher vorrangig als Konzeptkünstler. In den 1980er-Jahren, zur Zeit seines Umzugs nach Deutschland, erkannte Helnwein, dass das Format in der Kunst eine Rolle spielt. Um im Wettstreit mit der Flut an Bildern, Werbung, Plakaten und Billboards wahrgenommen zu werden, mussten seine Werke größer werden. Diese Zäsur in seinem Schaffen machte seine Kinderbildnisse monumental; gelegentlich nehmen sie ganze Hausfassaden ein. Helnwein verleiht den Kindern damit eine außergewöhnliche Präsenz, die die Bedeutung und Dringlichkeit seiner Themen vermittelt. Die Figuren in ihrer Überlebensgröße und hyperrealistischen Darstellungsweise, bei der der Künstler jedes Detail mit unglaublicher Genauigkeit wiedergibt, entsprechen einer Übersteigerung der Wirklichkeit, die uns verstört und schlicht überwältigt.
Vielleicht beeindruckt das Werk Helnweins gerade wegen dieser Spannung zwischen Realismus und Entrückung des künstlerischen Objekts. Die Symbolfiguren und Motive von Gewalt spielen sich in unseren Köpfen ab, denn wir sehen ein blutverschmiertes, aber nicht ein blutendes und schmerzverzerrtes Gesicht.
Die Ausstellung ist von 25. Oktober 2023 bis 11. Februar 2024 in der ALBERTINA zu sehen.
FOTOCULT Blog by Glaphyra Gusenbauer